Black Dagger Brotherhood
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BeitragThema: Leseprobe   Leseprobe I_icon_minitimeMo Dez 05, 2011 8:25 am

Unerkannt bewegte sie sich unter ihnen, nur eine von vielen
Pendlerinnen im nachmittäglichen Berufsverkehr, die im
frisch gefallenen Februarschnee auf den Bahnhof zutrottete.
Niemand schenkte der zierlichen Frau in dem übergroßen Kapuzenanorak,
deren Gesicht bis knapp unter die Augen von
ihrem Schal verdeckt war, die geringste Beachtung. Sie beobachtete
die Fußgängermassen mit regem Interesse. Zu auffällig,
das wusste sie, aber daran konnte sie nichts ändern.
Sie fühlte sich unter all den Menschen unwohl und war
voller Ungeduld, ihre Beute zu finden.
In ihrem Kopf dröhnte der hämmernde Rhythmus von
Rockmusik, die aus den winzigen Kopfhörern eines tragbaren
MP3-Players drang. Er gehörte nicht ihr. Er hatte Camden
gehört, ihrem achtzehnjährigen Sohn. Ihrem geliebten Cam,
der erst seit vier Monaten tot war, ein weiteres Opfer des
Unterweltkrieges,
in den nun auch Elise aktiv eingegriffen
hatte. Camden war der Grund, warum sie nun hier war und
durch die überfüllten Straßen von Boston zog, einen Dolch in
der Jackentasche und eine weitere titanbeschichtete Klinge
in einer Scheide um den Oberschenkel geschnallt.
Mehr denn je war Camden der Grund, warum sie noch
lebte.
Sein Tod durfte nicht ungerächt bleiben.
Elise überquerte einen Fußgängerüberweg und ging die
Straße hoch, auf den Bahnhof zu. Im Vorübergehen konnte
sie die Leute reden sehen. Ihre Lippen bewegten sich stumm,
8
ihre Worte – und viel wichtiger noch, ihre Gedanken – gingen
in den aggressiven Texten, kreischenden E-Gitarren und
dem pulsierenden Wummern der Bässe, die in ihren Ohren
dröhnten und in ihren Knochen vibrierten, unter. Was sie da
eigentlich hörte, wusste sie nicht genau, aber das war nebensächlich.
Alles, was sie brauchte, war der Lärm. Laut genug
und lang genug, um sich in seinem Schutz für ihren Jagdzug
in Stellung zu bringen.
Sie betrat das Bahnhofsgebäude, nur eine Person unter vielen
im endlosen Fluss der Menge. Das grelle Licht der Neonröhren
an der Decke drang nur mühsam bis zu ihren Köpfen
hinunter, die Gerüche von Straßendreck, Feuchtigkeit und zu
vielen Körpern attackierten durch den Schal hindurch ihre
Nase. Elise ließ sich weiter hineintragen und blieb dann in
der Mitte des Bahnhofsgebäudes stehen. Prompt teilte sich
die wogende Menge um sie, Leute rempelten sie an, die es
eilig hatten, zum Zug zu kommen. Im Vorbeigehen starrten
sie etliche Passanten wütend an, ihren Mundbewegungen
nach riefen sie ihr Obszönitäten zu, weil sie mitten im Weg
einfach stehen blieb.
Gott, wie sie es hasste, diesen Menschenmassen so unmittelbar
ausgesetzt zu sein. Aber es ging eben nicht anders.
Sie nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu wappnen.
Dann griff sie in die Anoraktasche und stellte die Musik ab.
Wie eine Welle überrollte sie die tosende Geräuschkulisse
des Bahnhofs, überflutete sie mit dem Lärm von Stimmen,
schlurfenden Füßen, Verkehrsgeräuschen, die von der Straße
hereinsickerten, und dem metallischen Quietschen und
Dröhnen der einfahrenden Züge. Aber all diese Geräusche
waren nichts im Vergleich zu den anderen, die jetzt über sie
hereinbrachen.
Wüste, boshafte Gedanken, dunkle Absichten, geheime
9
Sünden, offener Hass – all das peitschte heran und ballte
sich um sie wie ein schwarzer Sturm; ein ungeheurer Schwall
menschlicher Verdorbenheit prasselte auf ihre Sinne ein. Wie
immer brachte dieser erste wuchtige Ansturm sie aus dem
Gleichgewicht. Schwankend kämpfte Elise gegen das Schwindelgefühl
an, das in ihr aufstieg, und nahm dann all ihre Kraft
zusammen, um diesem übersinnlichen Angriff standhalten zu
können.
So eine Schlampe, ich hoffe die schmeißen sie hochkant
raus –
Verdammte Hinterwäldler, die sich Touristen schimpfen,
wieso gehen die nicht dahin zurück, wo sie hingehören –
Idiot! Geh mir bloß aus dem Weg, oder ich schlag dich
unangespitzt in den Boden –
Sie ist die Schwester meiner Frau, na wenn schon? Sie ist
doch die ganze Zeit schon hinter mir her –
Elises Atem ging mit jeder Sekunde schneller, in ihren
Schläfen erwachten dröhnende Kopfschmerzen. Die Stimmen
in ihrem Kopf vermischten sich zu einem unablässigen,
fast ununterscheidbaren Geschwätz, aber sie hielt aus, wappnete
sich erneut, als der Zug einfuhr und sich seine Türen
öffneten, um eine Flut von Reisenden auf den Bahnsteig zu
spülen. Die Menge strömte um Elise herum, neue Stimmen
fielen in die Kakofonie ein, die ihr Innerstes zerfetzte.
Diese Loser, die hier rumsitzen und betteln, sollten mal genauso
viel Energie darauf verwenden, sich einen verdammten
Job zu suchen –
Ich schwöre, wenn dieser Bastard mich noch ein einziges
Mal betatscht, bring ich ihn um –
Lauf nur, Herdenvieh, lauf zurück in den Stall! Mein Meister
hat recht, ihr seid jämmerliche Kreaturen, die es verdient
haben, versklavt zu werden –
10
Schlagartig öffnete Elise die Augen. Ihr Blut gefror zu Eis,
als ihr Verstand diese Worte registrierte. Das war die Stimme,
auf die sie gewartet hatte.
Die Beute, die sie jagen wollte.
Sie wusste nicht, wie der Mann hieß oder wie er aussah.
Aber sie wusste, was er war: ein Lakai. Ein Wesen, das einmal
ein Mensch gewesen war. Sein Menschsein war ihm
von dem ausgesaugt worden, den er seinen Meister nannte,
einem
mächtigen Vampir, dem Anführer der Rogues. Und die
Rogues und ihr unseliger Anführer, der das Vampirvolk gespalten
und diesen Krieg angezettelt hatte, waren schuld daran,
dass Elises einziger Sohn ums Leben gekommen war.
Nachdem sie vor fünf Jahren ihren Mann verloren hatte,
war ihr nur noch Camden geblieben. Nur er hatte ihrem Leben
noch Sinn und Bedeutung verliehen. Und dann verlor
sie auch ihn, und ihr Leben bekam eine neue Bestimmung.
Elise hatte einen unerschütterlichen Entschluss gefasst, und
dieser war es, worauf sie sich jetzt stützte; der ihren Füßen
befahl, Schritt für Schritt durch dieses dichte Gewühl zu tun,
auf der Suche nach dem einen, der heute für Camdens Tod
bezahlen würde.
Ihr schwirrte der Kopf vom unablässigen Ansturm schmerzhafter,
hässlicher Gedanken, aber schließlich schaffte sie es,
den Lakaien in der Menge auszumachen. Er stolzierte mehrere
Meter vor ihr, eine schwarze Strickmütze auf dem Kopf,
sein Körper in eine zerschlissene, ausgeblichene Tarnjacke
gehüllt. Feindseligkeit strahlte von ihm ab wie Säure. Seine
Verdorbenheit war so vollständig, dass Elise sie schmecken
konnte wie die Magensäure, die ihr jetzt im Hals aufstieg.
Sie hatte keine andere Wahl, als sich an seine Fersen zu heften
und den richtigen Moment abzuwarten, um zum Angriff
überzugehen.
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